12.05.08

12.5.1881: Bardo-Vertrag

Der Wettlauf um den "Platz an der Sonne" beginnt in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, genau genommen nach dem Berliner Kongress im Juni/Juli 1878. Der große Krieg droht. Das "Gleichgewicht der Kräfte", das seit dem Wiener Kongress 1815 für relative Stabilität in Europa gesorgt hat, ist nach dem Sieg Preußens über Frankreich ins Wanken geraten. Deutschland, die "verspätete Nation" schickt sich an, Hegemonialmacht zu werden.

Reichskanzler Otto von Bismarck, 1875 noch agent provocateur des auf Revanche zielenden Frankreich, bemüht sich, die Gemüter zu beruhigen. Nach den Einigungskriegen gegen Dänemark, 1864, Österreich, 1866 und Frankreich 1870/1871 erklärt er Deutschland als saturiert.

Bismarck: "Deutschland ist gesättigt. Es hat keine weiteren Eroberungen im Sinn."

In Berlin gibt er sich als "ehrlicher Makler", der "das Geschäft wirklich zustande bringen" will. Das "Geschäft" ist, den europäischen Frieden zu retten, der vor allem nach dem russisch-türkischen Krieg gefährdeter denn je erscheint, und - so ganz nebenbei - die Welt unter sich aufzuteilen.

Der "kranke Mann vom Bosporus" hat nach dem russischen Diktatfrieden von San Stefano seine letzten Besitzungen auf dem Balkan verloren. England und Österreich protestieren gegen den Machtzuwachs Russlands, das pikanterweise seit 1872 in einem Dreikaiser-Bündnis mit Österreich und Deutschland steht.

Der Alptraum Bismarcks: ein Zweifrontenkrieg zwischen dem zum Erzfeind gewordenen Frankreich und Russland, das von den Ergebnissen des Berliner Kongresses enttäuscht ist. Eine Befürchtung, die sich später als berechtigt erweist. Paris soll die Demütigung von 1871 nicht verwinden. 1893 sagt George Clemenceau, der französische Staatschef:

"Wir wollen, dass Russland, nachdem es der Spießgeselle unserer Niederlage war, das Werkzeug unserer vollständigen Wiederaufrichtung, das heißt unserer Revanche, werde."

Über ein Jahrzehnt kann Bismarck dies mit einer bis ins Perfide reichenden Taktik verhindern: Einerseits den "Draht nach St. Petersburg" halten, andererseits Frankreich isolieren; oder alternativ dessen Interessen auf die Kolonialpolitik lenken, und so die Spannungen weit weg von Berlin halten. Wohl wissend, dass es damit zum Gegensatz zwischen Frankreich und der Kolonialmacht Nummer Eins, England, kommen muss.

Das Empire träumt in Afrika - noch in den 1960er Jahren eine "terra incognita" für die europäischen Großmächte - von einer Herrschaft von Kairo bis zum Kap. Gleichwohl akzeptiert der britische Lord Salisbury in Berlin das französische Protektorat über Tunis. Auf Drängen Bismarcks wohlgemerkt, der die französische Revanchestimmung in anderer Kanäle lenken will: In Hinterindien und Nord-Afrika soll sich der ungeliebte Nachbar austoben.

In der französische Öffentlichkeit hält sich das Interesse an Kolonien in engen Grenzen. Überdies misstraut man dem vermeintlichen "ehrlichen Makler". Dies ändert sich, als 1882 Italien auf den Plan tritt, mit Großmachtambitionen, aber auf dem Berliner Kongress ebenfalls zu kurz gekommen. Es verleibt sich Tripolis ein und beansprucht Tunis.

Frankreich sieht sich zum Handeln gezwungen, zumal 1881 berberische Krumir-Stämme von Tunis aus in das von Frankreich beanspruchte Algerien eindringen.

Am 30. April 1881 läuft eine französische Flotte in Bizerta ein, gleichzeitig dringen französische Landstreitkräfte von Algerien aus in Tunis ein. Der Bey von Tunis muss sich geschlagen geben und im Vertrag von Casr el Said Bardo am 12. Mai 1881 das französische Protektorat akzeptieren.

Frankreich ist in den prestigeträchtigen Wettlauf um den "Platz an der Sonne" eingetreten. Er bedeutet für die okkupierten Länder mitunter zwar eine Verbesserung ihrer Infrastruktur (in Tunesien existiert 1914 bereits ein 4150 Kilometer langes Straßennetz), aber auch Ausbeutung und Entmündigung bis in die heutige Zeit.

Bismarcks Kalkül jedoch geht auf: Das französische Protektorat in Nord-Afrika zieht eine Periode französisch-italienischer Spannungen nach sich und beeinträchtigt gleichzeitig die Mittelmeer-Situation zum Nachteil Englands.

Frankreich besetzt zudem ein Jahr später das gesamte Algerien und erwirbt zwischen 1881 und 1911 zehn Millionen Quadratkilometer an Kolonien mit 60 Millionen Einwohnern. Es steigt zur zweitstärksten Kolonialmacht nach England auf und träumt von einem Reich zwischen Westafrika und Indien. Frankreich ist vollauf beschäftigt.

Bismarck wird vorerst nicht vom "cauchemar des coalitions" geplagt und ist als brillanter Jongleur des "Spiels mit den fünf Kugeln" - England, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland und eben Deutschland - auf dem Höhepunkt seiner Macht als Außenpolitiker.

Kolonialpolitik, die zwischen 1881 und 1884 sogar zur Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich geführt hatte, ist für ihn nie mehr als Mittel zum Zweck. Im Dezember 1888 erklärte er:

Bismarck: "Hier liegt Russland und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte. Das ist meine Karte von Afrika."

Die Ablenkung Frankreichs auf die Peripherie und nach Übersee hat jedoch nur kurzfristigen Erfolg. Die Annäherung zwischen Frankreich und Russland ist längst im Gang. Statt Frankreich soll wenige Jahre später Deutschland isoliert sein.


Autor: Frank Gerstenberg

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