02.09.08

An den Flüssen von Babylon

Der junge Mann platzte vor Stolz: Kaum angekommen, hatte er in dem Schutthaufen, der einst Babylon gewesen war, ein hübsches Terrakottafigürchen der Göttin Istar gefunden, und das war sogar mit Keilschriftzeichen versehen! Als er es seinem Kollegen Robert Koldewey präsentierte, dem Leiter der babylonischen Ausgrabung, meinte der, als echter Archäologe müsse der junge Mann nun aber auch die Schriftzeichen entziffern. Eifrig setzte sich der Novize hin und förderte mit Hilfe der Keilschriftliste einen babylonischen Text zutage, den er aber nicht übersetzen konnte. Er lautete "U du ri-nu-zi-ru-uz".

Die Arbeit mit dem sicherlich genialen, aber wohl recht exzentrischen Koldewey muss anstrengend gewesen sein, nicht zuletzt durch dessen Neigung zu Scherzen auf Kosten von Mitarbeitern und Besuchern. Dem jungen Friedrich Wetzel etwa, später ein bedeutender Archäologe, wurde ein Tonzylinder untergejubelt, dessen Inschrift Wetzel brav studierte, bis er im Inneren des Zylinders unter einer Lehmschicht ein paar Zigaretten fand und die Botschaft "Nebukadnezar seinem lieben Wetzel". Und den fünf Mitgliedern einer bibelfesten Sekte, die das Grabungsgelände besichtigen wollten, zeigte Koldewey ganz ernsthaft die Überreste des berühmten Feuerofens, die originale Löwengrube Daniels sowie Belsazars Thronsaal, wo einst das "Mene mene tekel" an der Wand erschienen war.

Mythos Babylon

Dumme Witze mit leichtgläubigen Opfern? Natürlich, aber damit erschöpft es sich nicht. Denn Koldewey kämpfte einen langen Kampf gegen ebensolche Erwartungen, die an ihn herangetragen wurden, die Wünsche, nun auch wirklich das in der Bibel Beschriebene vor die Nase gehalten zu bekommen, und die er in solchen Scherzen persiflierte. Der 1855 im Harz geborene Sohn eines Zollbeamten, studierte Architekt und Kunsthistoriker war seit 1899 Grabungsleiter in Babylon, wo er für die Deutsche Orient-Gesellschaft die Überreste einer der schillerndsten und verfemtesten Städte der Weltgeschichte freilegte. Der Mythos Babylon, den jetzt eine große Ausstellung im Berliner Pergamonmuseum heraufbeschwört, hatte zu Koldeweys Zeiten das Interesse an dieser Grabung entscheidend geprägt. Natürlich half ihm das bei der Durchführung, es nötigte ihn aber auch, fortwährend darüber zu publizieren, selbst wenn die Zeit seiner Meinung nach dafür noch längst nicht reif war.

Babylon: Für die gebildete Öffentlichkeit war das der Ort, wo der despotische Nebukadnezar herrschte, der Jerusalem zerstören ließ und die Bevölkerung deportierte, bis sie nur noch "an Wasserflüssen Babylons" saß und weinte. Der Ort des gotteslästerlichen Turmbaus, der auf den Himmel zielte, bis der solcherart Attackierte die Sprache der Bauleute verwirrte und sie sich in ihrer gemeinsamen Arbeit nicht mehr verständigen konnten. Später avancierte die Stadt zur "großen Hure", namentlich zum "Sündenbabel", und dass sie dann unterging, war aus dieser Perspektive ein reiner Segen.

Die reale Stadt

Allerdings bildete sich die moralische Entrüstung über Babylon zu einer Zeit heraus, in der man über die reale Stadt so gut wie nichts mehr wusste. So ist die archäologisch fassbare Wahrheit Babylons, der sich die Berliner Ausstellung in ihrer anderen Hälfte widmet, mit dem Mythos oft nur schwer unter einen Hut zu bringen.

Babylon: Das war das Großreich, das im zweiten vorchristlichen Jahrtausend in Mesopotamien entstand, das durch die Keilschrift geprägt war und aus dem mit dem Kodex des Königs Hammurapi eine der ersten Gesetzessammlungen überliefert ist. Ein Reich, in dem die Literatur blühte, dessen urbane Kultur sich gegen äußere Feinde gut behauptete, dessen Sprache und Schrift auch in entfernten Ländern verstanden wurde, das sich den Wissenschaften wie Mathematik, Medizin und Astronomie verschrieben hatte, dessen Einfluss auf andere Völker wuchs und allmählich schwand, bis es nach der letzten Blüte im siebten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert politisch bedeutungslos und immer mehr zum Mythos wurde. Der für Mythen besonders empfängliche Makedonierkönig Alexander tat ein Übriges, indem er Teile des zentralen Tempels abräumen ließ und dann in Babylon im Jahr 323 vor Christus starb, bevor er sich dem Wiederaufbau widmen konnte.

Babels Turm

Besonders schön zeigt sich diese Diskrepanz zwischen Mythos und Wahrheit etwa bei den Darstellungen des Turms: Seit Pieter Bruegels Gemälde von 1563 stellte man sich das Bauwerk in seinen Umrissen eher rund, in seiner Außenfläche sehr uneinheitlich vor. Erst Koldeweys Grabung brachte den Nachweis der streng viereckigen Form des dem babylonischen Stadtgott Marduk geweihten Heiligtums im Tempelbezirk E-temen-an-ki. Rekonstruktionen, die sich auf archäologische Befunde stützen, zeigen eine fünfgeschossige Anlage in Pyramidenform, auf deren oberster Plattform ein deutlich zurückgesetzter, wiederum zweigeschossiger Tempel thront. Eine große Freitreppe führt außen zur zweiten Plattform hinauf und erinnert mit ihren klaren Konturen so gar nicht an all die verwinkelten Steigen, mit denen sonst in der Bruegel-Nachfolge die jeweiligen Türme erschlossen werden.

Koldeweys bahnbrechende Leistung bestand darin, dass er sich dezidiert den städtischen Strukturen widmete und Methoden entwickelte, um aus den vorhandenen Gebäuderesten einigermaßen plausibel die versunkene Stadt zu rekonstruieren - auf dem Papier und teilweise auch physisch (siehe "Rechtsläufige Schlangendrachen"). Während von den Archäologen seiner Zeit spektakuläre Funde erwartet wurden, womöglich ein zweiter "Schatz des Priamos", grub Koldewey 18 Jahre lang beharrlich aus, was von babylonischen Tempeln und Palästen, Stadtmauern und Wohnvierteln zu finden war. Unterstützt wurde er in der Interpretation der Funde unter anderem durch die auf Keilschrifttafeln festgehaltenen zeitgenössischen Schilderungen Babylons, auf denen auch die Namen bestimmter Tempel und Viertel stehen. Andererseits erwies sich dabei, dass Herodots berühmter Babylon-Bericht nicht unbedingt zuverlässig ist.

Zuletzt Stationierungsgebiet amerikanischer Truppen

Koldewey, der fließend Arabisch sprach und nach Ansicht seiner Umgebung zunehmend die Sitten des Gastlandes annahm, verließ seine Grabung während all der Jahre nur ungern in Richtung Deutschland. Und wenn er nicht 1917 vor der nahenden britischen Armee hätte fliehen müssen, hätte er wohl noch erheblich länger gegraben. Er wurde Kustos an den Berliner Museen, kümmerte sich um die Publikation seiner Grabungsergebnisse (sein Buch mit dem programmatischen Titel "Das wieder erstehende Babylon", das bis zu seinem Tod 1925 in vier Auflagen erschien, ist eine äußerst fesselnde Lektüre) und nahm an einigen deutschen Grabungen teil, etwa auf Rügen. Er wurde 1921 pensioniert und starb vier Jahre später - Weggefährten vermuteten, dass er seine Gesundheit im Wüstenklima Mesopotamiens ruiniert hätte, berichteten aber auch von kruden Experimenten Koldeweys, in denen er etwa herausfinden wollte, wie viel Tabak, Alkohol oder Feuchtigkeit sein Körper vertragen könne.

Was er an Funden auf dem Grabungsgelände zurücklassen musste, gelangte später durch Verhandlungen zum großen Teil nach Berlin und bildet heute einen wesentlichen Teil der vorderasiatischen Sammlung im Pergamonmuseum. Das verlassene Gelände Babylons musste dagegen viel über sich ergehen lassen, zuletzt die Stationierung von Truppen nach dem Sieg über Saddam Hussein. Am Ende waren nicht nur Schäden an jahrtausendealten Tonziegelreliefs zu beklagen, sondern auch tiefe Gräben im Untergrund, angelegt für militärische Zwecke. Koldeweys Nachfolger werden es dort nicht leicht haben.

Die Ausstellung „Babylon. Mythos und Wahrheit“ ist vom 25. Juni bis zum 5. Oktober im Berliner Pergamonmuseum zu sehen. Der reichhaltige zweibändige Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen. Der von Ralf-B. Wartke herausgegebene Sammelband „Auf dem Weg nach Babylon. Robert Koldewey - Ein Archäologenleben“ erscheint im Verlag Philipp von Zabern.“ Michael Jursas Einführung „Die Babylonier“ ist bei C.H. Beck erschienen.

Quelle: Faz.Net

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