23.12.08

Baukunst- Eine gebaute Sozialutopie im 19. Jahrhundert

Die Mauer eines riesigen Industriegeländes, auf der ein Firmenschild mit dem Namen "Godin" angebracht ist. Gegenüber der Eingang zu einem Gelände mit dem Hinweis: "Schritttempo - Privatgrundstück". Eine kleine Brücke überspannt eine Flusskrümmung. Am anderen Ufer steht ein langgezogenes, massiges Gebäude aus rotem Backstein, das sich radikal von seiner Umgebung abhebt: die von Jean-Baptiste André Godin entworfene Familistère in Guise.
Die Familistère stellt zunächst die Verwirklichung eines Projektes dar: das einer gemeinschaftlichen Wohnform - ein Novum in der damaligen Zeit, das so ausgereift war, dass es als Vorläufer des sozialen Wohnungsbaus betrachtet werden kann.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand im Zuge der Industriellen Revolution eine neue Bevölkerungsschicht, das Proletariat, das in den Städten auf engstem Raum zusammenlebte, dort aber unter schlimmsten, teils gesundheitsschädlichen Bedingungen. Zum ersten Mal stellte sich die Frage nach Arbeiterwohnungen: Die ersten Arbeitersiedlungen wurden nach dem Vorbild von Einfamilienhäusern gebaut, denn selbst die aufgeklärtesten Industriellen scheuten vor kollektiven Wohnformen zurück. Denn sie befürchteten, in diesen revolutionären Zeiten durch die Konzentration einer großen Anzahl von Arbeitern in gemeinsamen Unterbringungen einen Unruheherd zu schaffen.
Ganz anders die Familistère in Guise: Die Siedlung besteht aus einem einzigen 450 Meter langen Gebäude mit erhöhtem Erdgeschoss, drei Stockwerken und einem Dachgeschoss; 16 Gemeinschaftstreppen führen zu den Wohnungen, in denen 1.500 Menschen - und damit genauso viele wie in 300 Einfamilienhäusern - untergebracht werden können.
Realisiert hat die Anlage der Industrielle Godin: Um sein utopistisches Bauvorhaben für seine eigenen Arbeiter zu realisieren, wurde Godin vom Besitzer einer Firma für Gusseiserne Öfen zum Architekten. Das Ergebnis ist mehr als Architektur, es ist in die Praxis umgesetztes sozialpolitisches Programm.


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