Bei Gießen wird ein Kelten-Museum gebaut. Aber was wissen wir wirklich über diese Vorfahren?
Seit fünf Jahren bewegt "Das Rätsel der Kelten" die kunstinteressierte Öffentlichkeit im Bundesland Hessen. Damals wurden erstmals öffentlich die sensationellen Funde eines 2500 Jahre alten Fürstengrabes, einer Gruppe von Statuen und einer Prozessionsstraße am Glauberg bei Gießen in einer großen Ausstellung der staunenden Öffentlichkeit gezeigt. Inzwischen sind die Grabungen weitergegangen. In immer mehr Regionen des mittleren und südlichen Deutschland kommen Reste erstaunlich großer Siedlungen ans Licht.
Schon spricht die Archäologie, wie am Beispiel der Heuneburg im südlichen Baden-Württemberg, von regelrechten Städten mit Tausenden Einwohnern. Dass dort griechische Erfahrungen, Waren und Erfindungen gehandelt wurden, lässt die Kelten als ferne Partner einer Hochkultur erscheinen, zu denen ihre eigene Kunstfertigkeit, aber auch die Fremdheit, Düsternis und bisweilen sogar Unheimlichkeit ihrer monumentalen Menschenbildnisse mit den riesigen segelartig ausgespreizten "Ohren" in eine spannungsreiche, schwer zu deutende Wechselbeziehung rückt.
Nun soll das neueste Wissen über dieses Volk mit den staunenswerten Funden aus den Fürstengräbern vom Glauberg in einem neuen Museum am Fundort im östlichen Wetteraukreis kaleidoskopartig ausgebreitet werden. Soeben hat das Büro KadaWittfeldArchitektur in Aachen zusammen mit club L94 Landschaftsarchitekten in Köln unter 27 Konkurrenten den Wettbewerb für den Neubau und einen eigenen "Archäologischen Park" gewonnen. Das aufgeständerte Bauwerk mit der weit aufgesperrten gläsernen Linse an der Stirnseite ragt wie ein Riesenfernrohr aus dem bewaldeten Berg hervor und setzt, so der hessische Kultusminister Udo Corts, ein "klares, fast elegantes Zeichen in dieser uralten Kulturlandschaft, ohne zum architektonischen Selbstzweck zu werden".
Bis in die architektonische Ausformung hinein ähnelt das Projekt dem Museum für die Himmelsscheibe von Nebra und dem ebenfalls rekonstruierten "Observatorium von Goseck" in Sachsen-Anhalt. Erst am 1. September hatte Corts an gleicher Stelle die - wie er formulierte - "europaweit einzigartige Rekonstruktion eines keltischen Kalenderbauwerks" eröffnet. Die durchaus noch zu hinterfragende Interpretation geht auf den Frankfurter Astrophysiker Prof. Bruno Deiss zurück, der in hier aufgefundenen 16 acht Meter hohen Eichenpfählen und Visierpunkten einen "präzisen und generationenübergreifenden Kalender" erkennen will. Mit diesem "astronomischen Bauwerk", dessen Deutung allerdings auffällig an die 7000 Jahre alte Anlage in Goseck erinnert, ließen sich laut Deiss bestimmte Punkte am Horizont genau anpeilen. Dadurch seien die Kelten in der Lage gewesen, die tägliche Verschiebung des Mondaufgangspunkts zu messen, was ihnen wiederum ermöglicht habe, wichtige Termine wie die Zeiträume für Aussaat und Ernte sowie Festtage wie die Wintersonnenwende vorauszuberechnen.
Weit über den Fundort am Glauberg hinaus hat sich die Erkenntnis der Archäologen immer mehr verfestigt: Deutschland ist nicht nur ein Germanenland, sondern auch ein Keltenland. Doch anders als bei anderen Zweifelsfragen scheint die Archäologie hier an Grenzen zu stoßen: je mehr Erkenntnisse, desto mehr Fragen. Wo kam dieses rätselhafte Volk, das einmal halb Europa besiedelt, vielleicht gar beherrscht hat, her? Und wohin und warum ist es verschwunden?
Erst vor wenigen Jahren haben Klimaforscher auf dem Deutschen Archäologentag in Heidelberg Klimastürze für die Flucht der Kelten verantwortlich gemacht - ihren Verbleib freilich konnten sie damit nicht erklären. Eine andere Hypothese ist erst jüngst in sich zusammengebrochen: Die "gälische" Bevölkerung Irlands kann nach gentechnischem Befund mit den Festlandskelten nicht blutsverwandt sein. In Mainz wurde bei Ausgrabungen in der Innenstadt eine weitere Standardmeinung ins Wanken gebracht: Kelten legten "heilige Haine" nicht nur auf Bergrücken und Geländekuppen an, sondern auch in Flussniederungen. Je mehr Funde zutage gefördert werden, desto mehr scheint sich das Wissen über das Rätselvolk zu verdunkeln.
Wie lässt sich zum Beispiel erklären, dass keine einzige der neu entdeckten Keltenstädte ("Oppida") von den Römern oder den Germanen weitergeführt worden ist? Von Köln bis Augsburg, von Trier bis Regensburg leiten die ältesten deutschen Städte ihren Stammbaum von den Römern ab - keine einzige heute noch bestehende Stadt aber von den Kelten. Die Menschen mit den rotblonden Haaren, den von römischen Schriftstellern geschilderten furchterregenden Blicken, der unerschrockenen und fairen Kampfesweise scheinen vom Himmel gefallen und eines Tages ebenso sang- und klanglos wieder in ihn entrückt worden zu sein.
In der Spanne von 500 bis 1000 Jahren, in der es nachweisbar ist, hat das Volk, das sich jeglicher Schriftsprache verweigerte, verblüffend vollkommene Kunstwerke geschaffen. Aber auch hier klafft ein merkwürdiger Widerspruch. Während die Schmuckstücke und Gebrauchsgegenstände eine staunenerregende Eleganz und Formsicherheit zeigen, wirken die Skulpturen eher ungeschlacht und plump. Gerade das, was jene zu Werken höchsten Ranges erhebt - der Reichtum an Ornamentik, das scheinbar am Goldenen Schnitt geschulte Ebenmaß, die nur mit der Lupe zu erfassende Präzision des Details - fehlt jenen ganz, ja scheint ihnen bewusst vorenthalten.
Die Kelten, so muss man schließen, haben unter den bekannten Kulturtechniken ihres Zeitalters sehr bewusst ausgewählt und sich ihrer in selbstbewusster Anverwandlung und Umdeutung bedient. Handelslinien und Kulturkreise zu identifizieren, die sich dabei verflochten haben, war gewiss des Schweißes vieler Generationen von Archäologen wert. Aufschluss über die Gründe des Eigensinns, der diese "Barbaren" geleitet hat, hat es kaum gebracht.
Die hessischen Forschungen münden in der alten Annahme, dass es der Kosmos einer eigenen Welterklärungslehre und Religion gewesen sei, der diesem Volk, das offenbar auch Menschenopfer praktizierte, eine solche Handlungsweise auferlegte. Der Glauberg hat dafür bisher keine neuen Beweise erbringen können. Für die Völkerkunde sind die Kelten wie ein Schatten. Ihre Spuren verlieren sich vor 2000 Jahren. In der kollektiven Erinnerung der Deutschen hat sich nicht einmal die Spur einer Sage oder eines Mythos von ihnen erhalten. So wird das neue Museum, wenn es spätestens 2009 seine Pforten öffnet, vielleicht wirklich weniger die Eigenschaft eines Fernrohrs in die Vergangenheit als eines Kaleidoskops haben, in dem sich aus bunten Scherben immer neue Bilder zusammenfügen, die ihre Bedeutung für sich behalten.
Quelle: Welt.de
05.09.08
Ein Volk wie ein Schatten
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